26. März. 2014
Zweite Leseprobe aus Necare - Verzweiflung
Nun dauert es nicht mal mehr zwei Wochen, bis der vierte Band offziell erscheint. Die Vorabexemplare sind allesamt unterwegs und werden bei den Gewinnern sicher morgen oder in den nächsten Tagen eintreffen. Um euch anderen die Wartezeit noch ein wenig zu versüßen, stelle ich euch heute die zweite Leseprobe vor. Es ist eine meiner Lieblingsstellen 😀 Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
Lange Tage
„Du siehst gut aus“, lobte Ventus mich, als wir uns am nächsten Morgen in der Eingangshalle trafen, um zum Radrym-Hauptquartier aufzubrechen. Margarete hatte mir empfohlen, eine schwarze Stoffhose und eine hellblaue Bluse anzuziehen. Ich fühlte mich nicht sonderlich wohl darin, kam mir vielmehr ziemlich dämlich vor, doch offenbar erwartete man auch von den Praktikanten ein seriöses Auftreten.
„Wir können gleich los“, fuhr er fort, nahm den Aktenkoffer, den Walther ihm reichte, und lächelte mich freundlich an. „Du wirst deine Sache bestimmt gut machen. Und wer weiß, vielleicht kommst du auf den Geschmack und findest heraus, was du später einmal beruflich machen möchtest.“
Es war unüberhörbar, welcher Wunsch darin mitschwang, allerdings konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, einmal bei den Radrym zu arbeiten. Was sie betraf, hatte ich ohnehin noch nie ein allzu gutes Gefühl gehabt, doch inzwischen liebte ich zudem einen Dämon, was mit Sicherheit keine gute Voraussetzung für eine Karriere dort war. Ich seufzte. Meine Gefühle für Devil waren etwas, wovon mein Vater besser nie erfuhr. Ich wollte mir lieber gar nicht erst vorstellen, wie er auf diese Nachricht reagieren würde.
„Wir treffen uns vor dem Hauptquartier“, sagte Ventus und riss mich damit aus meinen Gedanken. Dann rief er sein Portal und schritt hindurch.
Auch ich machte mich daran, meines zu beschwören. Das wabernde Oval erschien vor mir, und kaum hatte ich es betreten, spürte ich, wie ich mich meinem Ziel näherte. Ich fühlte den starken Sog und betrachtete die vielen bunten Farben, die an mir vorbeizischten. Alles drehte sich um mich, als schließlich eine Öffnung vor mir auftauchte. Die Kraft des Zaubers zog mich darauf zu, sodass ich wusste, dass ich mein Ziel gleich erreicht hatte. Ich trat hinaus und hatte endlich wieder festen Boden unter meinen Füßen.
Mein Vater stand bereits vor dem riesigen grauen Betonklotz, der das Hauptquartier der Radrym darstellte, und griff nach der Türklinke aus Eisen, die der Form einer großen Hand nachempfunden war.
„Ventus Carter und Force Franken”, verkündete er, woraufhin die Tür unverzüglich aufsprang und uns hereinließ. In der großen Eingangshalle herrschte reges Treiben. Überall liefen Hexen und Hexer geschäftig umher, trugen Akten oder eilten zielstrebig auf eines der zahlreichen Büros zu.
„Du sollst dich zunächst bei Herrn Cannes melden“, erklärte mein Vater und ging direkt auf die leuchtenden Platten zu, die sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befanden.
„Nimm du diese hier“, sagte er und stellte sich selbst auf die Fliese daneben. Sofort wurde er in die Höhe gehoben und vor eine Tür in den ersten Stock gebracht.
Voller Ehrfurcht schaute ich zu den Platten, die mir schon das letzte Mal nicht geheuer gewesen waren. Da sie nicht besonders groß waren und es zudem nirgendwo ein Geländer oder eine andere Möglichkeit gab, sich festzuhalten, konnte man viel zu leicht hinunterstürzen. Da ich jedoch keine andere Wahl hatte, stellte ich mich vorsichtig auf die Fliese.
Als sie sich in Bewegung setzte und mich nach oben schob, versuchte ich, das Gleichgewicht zu halten und nicht nach unten zu sehen. Meine Beine zitterten und ich bemühte mich, den Blick möglichst nach vorn gerichtet zu halten. Die Tür stand offen und kam immer näher – gleich hatte ich es geschafft.
Wenige Sekunden später erreichte ich sie und betrat voller Erleichterung das Büro. Ventus stand bereits vor dem großen Schreibtisch, hinter dem ein Mann mittleren Alters saß und mir freundlich zulächelte. Dann erhob er sich und reichte mir die Hand.
„Es freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Cannes, ich bin der Leiter der Verwaltung. Es ist mir eine große Ehre, die Tochter eines Venari in meiner Abteilung willkommen heißen zu dürfen.“
Ich nickte langsam. Er sah nett aus, hatte ein freundliches Lächeln, und seine Augen strahlten ebenfalls etwas sehr Herzliches aus. Er strich sich kurz nachdenklich durch sein dunkles Haar, in dem bereits die ersten grauen Stellen zu erkennen waren, und fuhr fort: „Ich werde Sie gleich in die Verwaltung bringen, denn dort beginnt Ihr Praktikum. Ich bin sicher, dass Sie hier viel lernen und großen Spaß haben werden.“
Ich kam also in die Verwaltung. Irgendwie hatte ich mir anderes erhofft, aber bestimmt würde ich später auch andere Abteilungen zu sehen bekommen.
„Bei Herrn Cannes bist du in guten Händen. Ich muss mich nun leider verabschieden, ich habe noch einiges zu tun“, sagte Ventus und reichte dem Mann die Hand. Dann sah er mich an und lächelte. Lag da etwa Stolz in seinen Augen? „Ich wünsche dir viel Spaß.“ Mit diesen Worten schritt er zur Tür und betrat die Platte, die ihn weiter nach oben trug.
„Wollen wir dann losgehen?“
Ich nickte wortlos.
„Wir müssen in Stock G“, erklärte er und trat auf die Fliese, die vor ihm zum Stehen kam. Während er langsam fortgetragen wurde, erschien eine weitere Plattform, auf die ich mich nun vorsichtig stellte.
„Stock G“, murmelte ich und sofort setzte sie sich in Bewegung. Ich versuchte, nicht den Halt zu verlieren, und sah mit rasendem Puls zu, wie ich höher und höher getragen wurde, während ich darum bemüht war, die Bilder von einem Absturz in die Tiefe aus meinem Kopf zu bekommen.
Mit zitternden Händen stieg ich kurz darauf von der Fliese und fand mich in einem Großraumbüro wieder. Etliche Hexen und Hexer saßen vor Computern an ihren Schreibtischen, wo sie telefonierten oder Unterlagen bearbeiteten. Keiner beachtete uns, was mir im Grunde ganz recht war.
„Ich stelle Sie als Erstes der Abteilungsleiterin vor“, erklärte Herr Cannes und ging mit mir auf einen kleinen, abgetrennten Arbeitsraum zu. Er klopfte, wartete jedoch gar nicht erst auf eine Antwort, sondern öffnete sofort die Tür.
Die Frau hinter dem Schreibtisch wirkte zunächst ein wenig überrascht, setzte jedoch gleich darauf ein unterwürfiges Lächeln auf. „Was führt Sie zu mir?“, fragte sie.
Auf den ersten Blick sah sie relativ unscheinbar aus. Sie war ziemlich schlank, beinahe schon dürr, und hatte strohiges blondes Haar, das sie hochgesteckt trug. Ihre Kleidung war schlicht und ziemlich altbacken: ein knielanger, dunkelgrüner Baumwollrock und eine hellgrüne Bluse mit Rüschen. Das Outfit ließ sie mit Sicherheit um einiges älter wirken, als sie eigentlich war.
„Frau Ansbach, ich möchte Ihnen Force Franken, unsere neue Praktikantin, vorstellen. Sie wird die nächsten Tage in unserer Abteilung verbringen.“
Ihre dünnen Lippen verzogen sich merklich und nahmen einen leicht säuerlichen Ausdruck an. Dennoch nickte sie und bemühte sich sichtlich, möglichst erfreut zu klingen. „Wir werden uns gut um sie kümmern.“
Der Mann nickte und wandte sich nun an mich. „Frau Franken, ich wünsche Ihnen viel Spaß und hoffe, Sie werden hier eine angenehme Zeit verleben.“
„Danke, das werde ich ganz bestimmt“, antwortete ich.
Nachdem er das Büro verlassen hatte, schien die Dame keinen Grund mehr zu sehen, ihre Abneigung gegen mich zurückzuhalten. „Ich weiß nicht, wer auf die Idee gekommen ist, Sie ausgerechnet zu uns zu stecken. Wir haben momentan wirklich genug zu tun und können nicht jemand so unerfahrenes gebrauchen.“ Sie seufzte und erhob sich. „Kommen Sie erst einmal mit.“
Das fing ja gut an. Ich hatte mich schließlich nicht darum gerissen, ausgerechnet in der Verwaltung zu landen. Schnell folgte ich ihr und versuchte, meinen Unmut hinunterzuschlucken. Ich würde einfach das Beste daraus machen und mich nicht unterkriegen lassen.
„Setzen Sie sich erst einmal hierhin“, sagte sie und deutete auf einen leeren Schreibtisch. Anschließend erhob sie die Stimme und verkündete: „Verehrte Kollegen, ich möchte Ihnen unsere neue Praktikantin vorstellen. Ihr Name ist Force Franken.“ Sie betrachtete ihre Mitarbeiter und blieb bei einem Mann hängen. „Herr Sevran, ich möchte, dass Sie sich erst mal um sie kümmern.“
Er war noch recht jung – ich schätzte ihn auf Anfang dreißig – und hatte ein sehr gepflegtes Äußeres. Er nickte zwar, seiner verdrießlichen Miene nach zu urteilen war er über diese Nachricht allerdings nicht sonderlich erfreut.
„Gut, dann haben wir auch das geklärt“, stellte Frau Ansbach fest und verschwand wieder in ihrem Büro.
Ich blieb auf meinem Stuhl sitzen, ohne dass mich irgendeiner der Mitarbeiter weiter beachtete. Auch Herr Sevran machte keinerlei Anstalten, auf mich zuzukommen. Er ignorierte mich und starrte konzentriert auf seinen Computer. Nachdem ich etliche Minuten abgewartet hatte, nahm ich schließlich all meinen Mut zusammen und ging langsam auf ihn zu.
„Ähm … Mein Name ist Force Franken. Ich bin die neue Praktikantin“, versuchte ich es.
Er sah mich nicht an, antwortete jedoch kurz angebunden: „Ja, das habe ich mitbekommen.“
Das war ja eine tolle Antwort! Ich gab mir Mühe, gelassen zu bleiben, und setzte erneut an: „Ich wurde Ihnen zugeteilt und wollte fragen, ob Sie vielleicht irgendeine Aufgabe für mich haben.“
Endlich wandte er seinen Blick vom Bildschirm ab, lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte mich.
„Setzen Sie sich erst mal wieder auf Ihren Platz, ich bringe Ihnen nachher etwas, was Sie tun können.“
Ich nickte langsam, kehrte an meinen Schreibtisch zurück, ließ mich mit einem leisen Seufzen auf den Stuhl nieder und wartete.
Gelangweilt starrte ich auf die große runde Uhr, die vor mir an der Wand hing. Die Zeit wollte einfach nicht verstreichen. Ich saß inzwischen schon eine geschlagene halbe Stunde herum, doch nichts geschah. Langsam brodelte es in mir. Am besten wäre es wohl, ich ginge noch mal zu ihm, um ihn erneut um eine Aufgabe zu bitten. Er konnte mich doch nicht ewig so sitzen lassen. Gerade als ich aufstehen wollte, kam er jedoch an meinen Platz und reichte mir eine Kiste mit Briefen.
„Bitte kuvertieren Sie die hier“, sagte er, wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und ging zu seinem Schreibtisch zurück.
Ich blickte auf die unzähligen Briefe, atmete kurz durch und machte mich an die Arbeit. Ich faltete einen Papierbogen nach dem anderen und steckte sie in die Umschläge.
Das war keine sonderlich aufregende Tätigkeit, aber allemal besser, als weiterhin nutzlos herumzusitzen. Trotzdem ertappte ich mich einige Male dabei, wie ich sehnsüchtig in Richtung Uhr schaute. Konnte der Tag nicht endlich vorübergehen?
Erst gegen Mittag sprach mich Herr Sevran erneut an. „Frau Franken, Sie können jetzt Pause machen. Die Cafeteria befindet sich im Erdgeschoss.“ Ohne meine Reaktion abzuwarten, eilte er aus dem Büro.
Ich erhob mich und streckte mich müde. Nur noch ein paar Stunden, dann wäre der erste Tag endlich überstanden. An die nächsten wollte ich lieber gar nicht erst denken.
Vorsichtig stellte ich mich auf eine der Platten, die mich ins Erdgeschoss beförderte. Dort angekommen, folgte ich der zugegebenermaßen guten Ausschilderung, sodass ich kurz darauf mein Ziel erreichte.
Obwohl der Raum ziemlich groß war, waren nur wenige Tische besetzt. Die meisten Mitarbeiter zogen es wohl vor, nur einen kleinen Snack zu kaufen und sich damit in ihr Büro zurückzuziehen. Ich reihte mich in die kurze Schlange ein und sah mir die verschiedenen Gerichte genauer an. Neben einer reichhaltigen Salatbar gab es Hühnerfrikassee mit Reis, Tortellini sowie Gemüseauflauf.
Ich überlegte gerade, wofür ich mich entscheiden sollte, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Erstaunt wandte ich mich um und blickte in ein bekanntes Gesicht: Repere Davis. Nur mit Mühe konnte ich ein Stöhnen unterdrücken, denn ich hatte diesen Kerl schon bei unserer letzten Begegnung im vergangenen Sommer nicht leiden können.
„Sie sind es also wirklich“, stellte er lächelnd fest. „Besuchen Sie Ihren Vater?“
Ich schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, Ich mache hier für die nächsten zwei Wochen ein Praktikum.“
„Das ist ja großartig“, freute er sich. „Sie wollen also in die Fußstapfen von Herrn Carter treten. Sehr löblich, wirklich.“
Das war mit Sicherheit das Letzte, was ich vorhatte.
„Es ist schön, Sie wiederzusehen und dann auch noch zu hören, dass Sie ebenfalls eine Karriere bei den Radrym anstreben.“ Sein Gesicht nahm einen selbstverliebten Ausdruck an. „Was mich selbst betrifft, so bin ich inzwischen einen großen Schritt vorangekommen. Ich habe das Probejahr mit Auszeichnung bestanden, weshalb mir die Ehre zuteilwurde, nun als fester Bestandteil in der Forschungsabteilung zu arbeiten. Natürlich erledige ich momentan überwiegend kleinere Aufgaben, doch ich bin mir sicher, dass ich mich mit der Zeit bis ganz nach oben arbeiten werde.“
Er hatte sich offenbar kein bisschen verändert, sondern sprach noch immer am liebsten über sich selbst und seine Karriere.
„Wenn Sie möchten, können Sie gern mal bei mir vorbeischauen. Dann zeige ich Ihnen ein paar Dinge, die Sie sehr interessant finden dürften.“
Ich nickte nur vage, was er jedoch sofort als Zuspruch auffasste.
„Gut, dann ist das also abgemacht. Ich kann Sie in den nächsten Tagen auch einfach mal abholen und rumführen. In welcher Abteilung sind Sie denn momentan?“
„In der Verwaltung“, erklärte ich.
Er schaute ein wenig verwundert. „Hm … Ich hatte angenommen, Sie wären bei Ihrem Vater. Interessieren Sie sich denn für … Verwaltung?“
„Ich bin fürs Erste dort eingeteilt worden. Für den Anfang finde ich das auch vollkommen okay.“
Er nickte, wobei sein Blick an der Uhr über der Theke hängen blieb. „Oh, schon so spät. Es war wirklich nett, Sie getroffen zu haben. Ich muss jetzt leider weiter, aber wir werden uns ja nun bestimmt öfter sehen. Ich freue mich schon darauf, Ihnen bei nächster Gelegenheit meine Abteilung zu zeigen.“ Er lächelte, wandte sich um und eilte mit seinem Mittagessen davon.
Dieser Kerl war zwar anstrengend und ziemlich nervig in seiner eifrigen Art, aber wenigstens war er freundlich und behandelte mich nicht, als würde ich stören.
Ich ließ mir den Teller mit Tortellini füllen, bezahlte und setzte mich an einen der zahlreichen leeren Tische.
Nach der Pause ging ich in die Verwaltung zurück und machte mich erneut daran, die Briefe zu kuvertieren. Erst gegen sechzehn Uhr klebte ich den letzten Umschlag zu, und damit ging zugleich mein erster Praktikumstag zu Ende.
Egal, wie unerwünscht ich mich die ganze Zeit über gefühlt hatte, ich hatte nicht vor, mich unterkriegen zu lassen, und wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass man mich mit der Zeit doch noch akzeptieren würde. Und wenn nicht, so würde ich immerhin schon in zwei Wochen wieder in Morbus sein und dort ein paar Tage mit meinen Freundinnen verbringen können. Ich lächelte bei diesem Gedanken. Erleichtert und frustriert zugleich, beschloss ich, meinen Vater zu fragen, ob wir zusammen nach Hause gehen würden.
Nachdem mich die Platte direkt vor seine Bürotür gebracht hatte, klopfte ich an und trat schließlich ein. Wie erwartet saß er hinter seinem Schreibtisch und war in einen Stapel Unterlagen vertieft. Er schaute kurz auf und lächelte, als er mich erblickte. „Oh, du bist es. Wie war dein erster Tag? Sicherlich aufregend, oder?“
„Ich durfte natürlich noch nicht ganz so viel machen, aber es war schon in Ordnung.“
Sein Gesicht wurde im Nu wieder ernster und jegliche Freude verschwand daraus. „Ich hoffe doch, du hast deine Aufgaben erledigt und keine Probleme gemacht? Vergiss nicht, dass du eine Praktikantin bist. Da muss man eben einiges hinnehmen, auch wenn es einem nicht passt.“
Seine Worte verletzten mich und machten mich zugleich ziemlich wütend. Was dachte er nur von mir? Wie konnte er seine eigene Tochter in solch einem Licht sehen?!
„Keine Sorge, ich habe alle Briefumschläge korrekt und mit absoluter Präzision zugeklebt. Ich weiß doch, wie unglaublich wichtig diese Arbeit ist“, erwiderte ich in sarkastischem Tonfall.
„Umschläge?“ Er wirkte ein wenig verwirrt, doch ich winkte ab. Ich wollte nicht länger darüber reden, und so wie es aussah, würde er ohnehin nicht für mich einstehen.
„Hast du auch bald Feierabend? Dann warte ich noch. Ansonsten würde ich schon mal nach Hause gehen“, sagte ich.
„Geh ruhig vor. Ich werde noch ein paar Stunden hier sein. Wir sehen uns dann zum Abendessen.“
Er hatte offenbar alles gesagt und widmete sich erneut seinen Papieren.
Fremde Stimmen
„Frau Franken, bringen Sie mir doch bitte einen Kaffee“, rief Herr Sevran.
Ich erhob mich und ging auf das kleine Zimmer am Ende des Großraumbüros zu. Es war bereits mein fünfter Praktikumstag und ich war mittlerweile zum Kaffeekocher aufgestiegen. Ansonsten hatten sich meine Aufgaben allerdings kaum verändert. Briefe kuvertieren, Unterlagen und Akten sortieren, Botengänge … alles in allem nichts Besonderes. Dennoch versuchte ich, durchzuhalten und mich nicht zu beklagen. Natürlich hatte ich mir die Zeit bei den Radrym anders vorgestellt und auch die Hoffnung gehabt, noch andere Abteilungen kennenzulernen. Nun stand jedoch fest, dass ich die ganzen zwei Wochen in der Verwaltung verbringen würde.
In der Büroküche stellte ich fest, dass der Wassertank der Kaffeemaschine mal wieder leer war und ich ihn auffüllen musste. Weil der Apparat vollkommen anders aussah als die, die ich aus Morbus kannte, hatte ich ihn beim ersten Mal gar nicht erkannt. Eine Angestellte war jedoch so nett gewesen, mir die Bedienung zu erklären, sodass ich damit inzwischen gut allein zurechtkam.
Ich entnahm der Maschine den Tank, füllte ihn mit kaltem Wasser und setzte ihn wieder ein. Anschließend schrieb ich mit dem Finger Herrn Sevrans Nummer auf eine Art Touchdisplay, woraufhin eine Tasse erschien, die sich langsam mit dem heißen Getränk füllte. Jedem Mitarbeiter war eine Zahl zugeteilt, unter der alle Angaben dazu gespeichert waren, wie die entsprechende Person ihren Kaffee zu trinken pflegte.
Mit dem vollen Becher ging ich zu Herrn Sevran zurück und stellte ihm diesen auf den Schreibtisch. Wie ich erwartet hatte, trank er zwar sogleich einen Schluck daraus, dankte mir aber mit keiner Geste, sondern arbeitete unbeirrt weiter. Genervt kehrte ich zu meinem Schreibtisch zurück und fuhr damit fort, verschiedene Schriftstücke zu stempeln. So hatte ich mir das Praktikum wirklich nicht vorgestellt …
Gegen Mittag machte ich mich wie jeden Tag auf den Weg in die Cafeteria. Als ich in den Flur einbog, hörte ich eine Stimme nach mir rufen: „Frau Franken! Frau Franken!“
Ich wandte mich um und sah Repere, der freudestrahlend auf mich zueilte. „Schön, dass ich Sie treffe. Sie machen wohl auch gerade Pause?“
Ich nickte. „Ja, ich wollte mir eine Kleinigkeit zu essen holen.“
„Hätten Sie danach noch ein bisschen Zeit?“ Er sah mich erwartungsvoll an. „Ich wollte Sie doch ein wenig rumführen.“
Ich hatte nicht wirklich Lust dazu, aber es war bestimmt besser, als in der Pause allein herumzusitzen.
„Ja, warum eigentlich nicht.“
Er freute sich sichtlich über diese Antwort. Nachdem wir uns beide für ein belegtes Brötchen mit Käse entschieden hatten, begaben wir uns gemeinsam in die Forschungsabteilung. Sie lag im Erdgeschoss und war äußerst aufwendig gesichert. Repere malte mit seinen Fingern ein kompliziertes Muster aus vielen Bögen und Zeichen auf die Tür und legte anschließend seine Hand darauf. Erst danach öffnete sich der Eingang, sodass wir eintreten konnten. Mehrere Hexen und Hexer saßen über medizinische Apparate gebeugt und untersuchten Proben.
„Hier analysieren wir Gewebe, Blut und Sekrete, die wir von den Dämonen gewonnen haben“, erklärte er voller Stolz.
Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, wandten sich auch schon zwei der Männer nach ihm um.
„Hey, Davis!“, brüllte ihn einer an. „Was soll das?! Sie wissen ganz genau, dass Unbefugten der Zutritt untersagt ist. Bringen Sie das Mädchen auf der Stelle nach draußen.“
„Sie ist keine Unbefugte“, erwiderte er in seltsam kleinlautem Tonfall. Es schien ihn all seine Kraft zu kosten, seinen Standpunkt zu behaupten. „Das ist Force Franken, die Tochter von Ventus Carter. Ich habe die offizielle Erlaubnis, Sie hier herumzuführen.“
Der Mann betrachtete mich mit abschätzigem Blick und widmete sich anschließend ohne ein weiteres Wort wieder seinen Proben.
Als wäre nichts geschehen, fuhr Repere mit seiner Führung fort. „Es ist immer wieder aufregend, was man bei den Untersuchungen alles herausfindet. Wussten Sie zum Beispiel, dass der fluoreszierende Speichel des Jigorus-Dämons mit enorm vielen Bakterien versetzt ist, sodass er seine Opfer damit infizieren und töten kann?“
Ich versuchte, möglichst wenig angeekelt zu schauen.
Zum Glück schob er mich sofort weiter. „Erst neulich wurde ein besonders großes Exemplar dieser Gattung gefangen und von uns untersucht. Sie erinnern sich doch bestimmt noch an die Beschwörungsräume, in denen die Dämonen gerufen werden?“
Natürlich erinnerte ich mich daran, wie hätte ich die auch vergessen können? Repere hatte sie mir bei meinem letzten Besuch gezeigt. Es waren große Räume, in denen überall Symbole auf den Boden gemalt waren. Die Hexer riefen Dämonen aus Incendium, betäubten sie und töteten sie anschließend zu Übungszwecken. Die Überreste wurden dann in der Forschungsabteilung auf Krankheiten untersucht – immer in der Hoffnung nach möglichen neuen Erkenntnissen – und anschließend zu Tränken oder Giften verarbeitet. Schon damals hatte mich der Anblick ziemlich geschockt.
Wir gelangten nun in einen weiteren Bereich. Hier standen Unmengen an Regalen, in denen sich die unterschiedlichsten Gefäße befanden. Große, bauchige Flaschen, kleine Schalen, wuchtige Rundgläser – und in all diesen schwammen eigentümliche Teile, die offenbar von Dämonen stammten. Ich erkannte Hautproben, Schuppen, Finger, Augen und verschiedene Innereien, darunter auch Herzen.
„Hier bewahren wir die Präparate für die Untersuchungen auf. Und dort hinten“, er deutete auf eine lange Schrankwand, „steht alles, was zu Tränken und Giften weiterverarbeitet werden kann. Es befinden sich teilweise echte Schätze darunter.“ Er ging ein paar Schritte mit mir und zeigte auf eine große Flasche, die mit einer dicklichen, milchigen Brühe gefüllt war. „Sehen Sie diese gelbe Flüssigkeit? Das ist der Gallensaft eines Umach. Wirklich selten und sehr wertvoll, da daraus ein äußerst starkes Halluzinogen hergestellt wird. Damit ist es leicht, Gegner auszuschalten und vollkommen wehrlos zu machen.“
Repere streifte durch die Regale und präsentierte mir voller Stolz weitere Gefäße. Zu jedem erklärte er mir ausführlich, worum es sich dabei handelte, woher es stammte und warum es so unglaublich kostbar war.
Ich hörte bereits nach wenigen Minuten nicht mehr zu und ließ meinen Blick über die vielen Gegenstände streifen. Ich konnte kaum fassen, was sich hier alles befand. Aus den Gläsern starrten mich stumpfe Augen an, in denen dennoch blankes Entsetzen lag. Des Weiteren entdeckte ich abgetrennte Gliedmaßen, und an einer Wand hingen sogar Waffen.
Mittlerweile hatten wir die Hälfte des Raumes durchquert und ich erkannte vor uns eine Tür, die von einer durchsichtigen Plane verdeckt wurde und meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Repere bemerkte nicht, dass ich stehen blieb, sondern ging weiter und fuhr unbeirrt in seinem Vortrag fort. Vorsichtig schob ich den Plastikvorhang beiseite, und Kälte schlug mir entgegen. Langsam tat ich ein paar Schritte in die dunkle Kammer hinein. Ich musste mich erst einmal an die Dunkelheit gewöhnen, doch nach und nach erkannte ich immer deutlicher Umrisse und Schatten. Ich schritt näher und sog bei dem Anblick, der sich mir bot, erschrocken die Luft ein: Ich sah Kadaver und Leichen … überall tote Dämonen. Hier befanden sich wohl die Überreste, die nicht mehr zu gebrauchen waren.
Ich taumelte entsetzt einige Schritte zurück und musste den aufkommenden Würgereiz unterdrücken. Es stank entsetzlich. Ich wollte mich gerade umdrehen und die Kammer wieder verlassen, als mir ein Gesicht auffiel. Es starrte mich mit leeren Augen an; sein Mund stand offen, sodass ich die hellen Zähne darin erkennen konnte. Auf den ersten Blick wirkte es auf mich wie das Gesicht eines Menschen, doch bevor ich weiter herantreten konnte, um es mir aus der Nähe anzuschauen, packte mich jemand am Arm und zog mich aus dem Raum.
„Dort werden die Abfälle untergebracht“, sagte Davis. „Ich weiß, das ist kein schöner Anblick.“
Ich wandte mich noch einmal um, doch die milchige Plane versperrte mir die Sicht. Ich wusste, dass es Dämonen gab, die menschliches Aussehen hatten. Devil, Banshee, Marid und Lenn waren das beste Beispiel dafür. Doch sie waren stark und nicht so einfach zu beschwören. Zudem war da noch etwas … ein Gefühl, das sich nicht abschütteln ließ. Ich war mir sicher, dass dieses Gesicht keinem Dämon gehörte …
***
Müde und einen großen Stapel Akten auf den Armen tragend, schleppte ich mich durch die Flure. Die letzten Tage waren äußerst zäh gewesen und dementsprechend langsam vergangen. Doch schon morgen war mein letzter Tag bei den Radrym und dann hatte ich es endlich geschafft. Meine Aufgaben waren die gesamten zwei Wochen über dieselben geblieben, und auch Herr Sevrans Verhalten mir gegenüber war unverändert kalt. Inzwischen war mir das jedoch ziemlich egal. Sollte er doch von mir denken, was er wollte.
Ich musste allerdings zugeben, dass einige seiner Sätze mich weiterhin nicht losließen. Es war nicht leicht zu verdauen, dass die hiesige Gesellschaft Mischava nur schwer akzeptierte. Natürlich war mir das auch schon zuvor bewusst gewesen, doch so deutliche Worte hatte bisher noch keiner gefunden, um seine Abneigung zum Ausdruck zu bringen. Immer wieder fragte ich mich, ob tatsächlich die Mehrheit der Hexen so dachte. Was aber noch viel wichtiger war: Wie stand mein Vater dazu? Ich hatte ihn in den letzten Tagen hin und wieder beobachtet und versucht, einen Hinweis darauf zu finden. Er hatte mir Fragen zu meinem Praktikum gestellt und ein paar lobende Worte für mich gefunden. Abgesehen davon war er kühl geblieben. Lag das wirklich an seiner zurückhaltenden Art? Oder würde er sich anders verhalten, wenn ich eine reine Hexe wäre?
Ich seufzte und versuchte, das Gewicht des Aktenstapels auf meinen Armen anders zu verlagern. Der Packen war ziemlich schwer und allmählich geriet der kleine Turm ins Wanken. Ich sollte die Unterlagen ins Archiv im Keller bringen und einsortieren – eine Aufgabe, auf die ich mich nicht sonderlich freute. Andererseits war ich dabei wenigstens allein und musste diesen dämlichen Herrn Sevran nicht um mich haben.
Ich betrat eine der Plattformen, die mich durch einen dunklen Schacht nach unten brachte. Im Keller angekommen, fand ich mich in einem langen, finsteren Gang wieder. Er zweigte mehrfach ab, doch zum Glück fiel mir gleich ein Schild ins Auge, das mir den Weg ins Archiv wies. Der Raum war riesig, vollgestellt mit unzähligen Regalen, in denen sich Akten und Unterlagen stapelten. Es roch muffig und die Luft war kalt und trocken. Ich machte mich an die Arbeit und sortierte die Ordner ein. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich damit fertig war und hatte einige Male die große Leiter gebraucht, um an die oberen Reihen heranzukommen. Hin und wieder hatte ich das Gefühl gehabt beobachtet zu werden, doch natürlich war niemand zu sehen gewesen … Nun verließ ich das Archiv, bog nach rechts ab und folgte dem Flur. Die Tatsache, dass ich ganz allein war und alles um mich herum in fahlem Neonlicht tanzte, ließ den Gang ziemlich unheimlich wirken. Meine Schritte und mein immer lauter klopfendes Herz waren die einzigen Geräusche, die ich vernahm. Es war seltsam, doch meine Hände begannen zu zittern, ohne dass ich verstand, warum. Meine Augen waren geweitet und hielten nach etwaigen Gefahren Ausschau, doch natürlich war hier nichts, immerhin befand ich mich am sichersten Ort in ganz Necare.
Doch, da war etwas …
Ich blieb abrupt stehen, hielt vor Angst den Atem an und lauschte. Da hörte ich es erneut. Ein leises Wispern.
Ruckartig wandte ich mich um und blickte hinter mich. Ich hätte schwören können, dass da jemand gestanden hatte, doch ich konnte niemanden sehen. Schnell ging ich weiter und versuchte, diesen kalten Schauer in meinem Nacken zu ignorieren.
Das Licht einer Neonröhre flackerte, zuckte unruhig über mir und machte dabei knackende, zischende Geräusche. Ich rannte nun fast und mein Herz verkrampfte sich vor Panik.
In diesem Moment ging das Licht aus und ich vergaß beinahe zu atmen. Wie erstarrt stand ich da, vollkommen unfähig, etwas zu tun oder einen klaren Gedanken zu fassen.
Hier ist nichts, sagte ich mir immer wieder zur Beruhigung. Nur leider half das nichts. Ich beschloss, erst einmal Licht anzumachen. Vorsichtig lief ich den Korridor entlang und suchte vergeblich nach einem Schalter. Schließlich rief ich den Limara-Zauber und ließ eine helle Kugel vor mir erscheinen, sodass ich wieder in der Lage war, etwas zu erkennen. Meine Hände zitterten und mein Atem rasselte vor Angst. Alles in mir schien mich zu warnen, doch wovor? Langsam wandte ich mich um. Etwas sagte mir, dass ich so schnell wie möglich von hier weg musste, und genau das wollte ich tun. Ich eilte die Flure entlang, ständig dieses kalte Grauen im Nacken.
Plötzlich hörte ich es erneut … dieses Wispern. Nun vernahm ich es ganz deutlich. Eine fremdartige Stimme flüsterte leise an meinem Ohr: „Divina.“
Erschrocken sah ich mich um, konnte jedoch niemanden erkennen. Ich ließ mein Licht umherwandern und jede dunkle Ecke beleuchten. Am Ende des Korridors lag eine Tür, die halb offen stand. Sie war mit vielen Symbolen versehen, die im Schein meines Zaubers seltsam glühten.
Langsam ging ich darauf zu, schob sie ganz auf und trat in den stockfinsteren Raum dahinter. Mit einem lauten Schlag fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Ich drehte mich erschrocken um und wollte sie wieder öffnen, als ich erneut diese Stimme hörte: „Divina.“
Ich wandte mich ihr zu und trat voller Entsetzen einige Schritte zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand prallte. Ich war unfähig, die Augen von dem abzuwenden, was ich da sah. Vor mir standen mehrere mit Wasser gefüllte Behälter, die grünlich schimmerten. Ich spürte, wie mein Puls vor Panik raste und sich die Bilder vor meinen Augen zu drehen begannen.
aaaaaaa immer wenns spannend wird…:)
Ich kann es kaum erwarten das Buch zu lesen!!!
Freut mich riesig, dass dir der Auszug gefallen hat. 😀 Nun dauert es ja nicht mehr lange bis zum 08. April und ich bin gespannt, wie dir der Rest des Buches gefallen wird. 😉
Juliane duu bist so gemein. … das werden die paar schlimmsten tage meines Lebens bis ich das buch endlich lesen kann x.x
xD Oh je, na so schwer wollte ich es dir aber nicht machen. Aber freut mich, dass dir die Leseprobe gefallen hat und ich hoffe, dass die restlichen Tage nun schnell vergehen. 😉
Juliane, wann gibt es das eBoook zu necare 4 zu kaufen? Steht bei Amazon noch nicht drin, aber das Taschenbuch ist schon bestellbar. Aahhh, bin doch schon so aufgeregt. LG karo
Ja, ich habe auch gesehen, dass das Taschenbuch bereits gelistet ist, das Ebook aber leider nicht. Eigentlich sollte das Ebook ebenfalls bereits erhältlich sein, doch bei Amazon gab es ein kleines Problem. Morgen müsste es aber hoffentlich online sein. *-* Ich hoffe jedenfalls, dass euch der Band gefallen wird.
Servus Juliane !
Ich möchte mich Karoline mit ihrer Frage anschließen. Aaaah ! Bin schon so gespannt und mein Download Finger juckt schon.
LG
Doris
Leider gab es ein Problem bei Amazon, aber morgen müsste das Ebook gelistet sein. Das hoffe ich zumindest sehr -.-