Ich treibe in der Endlosigkeit, schaukelnd, schwankend, taumelnd. Ein unendliches Meer, und ich befinde mich mitten darin. Verloren, ohne Hoffnung auf Rettung. Wellen stellen sich mir entgegen, brechen über mir, reißen mich mit sich und ziehen mich in die tiefe Dunkelheit hinab. Kälte umfängt mich, während das Blau des Wassers stetig finsterer wird. Ich kann kaum atmen und blicke sehnsuchtsvoll hinauf zur Wasseroberfläche, die unerreichbar scheint. Immer weiter entferne ich mich davon, versinke in meinem kühlen Grab. Bilder meiner Familie flammen vor mir auf. Meine Eltern, Meg, Grandma, mein Cousin Will, meine Tante und mein Onkel. Und zu guter Letzt blitzen diese dunkelblauen Augen auf, umrahmt von tiefschwarzen Wimpern. Schalk liegt in ihrem Blick, aber auch eine Spur von Traurigkeit. Lucius. Auch ihn werde ich nie wiedersehen. Ich habe einen Fehler begangen – wieder mal. Und diesmal wird es mich das Leben kosten.
Kleine Luftblasen steigen aus meinem Mund hinauf durchs Wasser und schaffen das, was mir nicht mehr gelingen wird: Sie erreichen die Oberfläche. Ich sehe, wie sie dort oben zerplatzen, und bemerke gleichzeitig, wie sich etwas durch die Wassermassen pflügt. Ein Boot. Hektisch rudere ich mit den Armen. Ein Schlauchboot. Es hat eine rötliche Farbe, wirkt durch das Wasser fast fleischig und ist prall gefüllt. Genau über mir hält es an. Etwas reckt sich ins Wasser und kommt auf mich zu. Klauenartig pflügen sich die Finger durch die Tiefe und versuchen, mich zu packen. Ich will schreien, schwimme, so schnell ich kann, aber meine Chancen sind aussichtslos. Der Arm packt mich, schlingt sich um meine Taille und zerrt mich nach oben, dem verschwommenen Gesicht entgegen, das sich an der Oberfläche bricht.
Mit letzter Kraft bäume ich mich auf, stemme mich gegen die Hand und schreie, so laut ich kann: »Schlauchboot-Lippe! Verfluchter Mistkerl! Lass mich los!« Er zieht mich zu sich, sein Gesicht kommt näher. Diese kalten Augen, dieses grässliche Grinsen. Ich hole aus und nutze alles, was ich habe: Ich trete und werfe ihm meine Fäuste entgegen. Dann spüre ich den Fall …
»Autsch, verdammt noch mal«, zische ich leise, während ich mir den Rücken reibe und langsam die Augen öffne. Es genügt ein einziger Blick, und ich bin schlagartig wach. Was bei den Göttern …
Das, was ich vor mir sehe, ergibt überhaupt keinen Sinn. Ich weiß, dass mich der Kerl im Fitnessstudio ausgeknockt hat. War der Schlag etwas zu heftig? Bin ich gestorben und in die Welt der Götter gelangt? Wer hätte gedacht, dass es dort wie in der Bachelor-Villa aussieht? Und die Kandidatinnen stehen auch schon parat. Nur, warum sind ihre Zimmer nach vorne hin offen und haben nicht mal eine Tür? Ich schaue genauer hin. Es sind nicht nur Frauen, sondern auch einige Männer darunter. Einer davon macht gerade Liegestütze, als hinge sein Leben davon ab – und das natürlich mit nacktem Oberkörper. Ein anderer sitzt vor einem Tisch mit Spiegel und cremt sich das Gesicht ein. Eine Frau backt einen Kuchen und redet dabei ununterbrochen, eine andere schnattert fröhlich: »Willkommen in Libbys Schönheitspalast. Ich bin gerade dabei, ein paar neue Fotos für euch zu machen. Wer von euch steht auch auf bequeme Jeans, die zudem eine top Figur machen? Dann habe ich einen tollen Tipp für euch …«
Ich blicke von einem Zimmer zum anderen, und erst jetzt fällt mir auf, dass sie alle ein Handy aufgebaut haben und in die Kamera sprechen.
Wo bei den Göttern bin ich hier gelandet?!
Langsam rappele ich mich auf und entdecke hinter mir ein Sofa, von dem ich offenbar gefallen bin. Ich lasse meinen Blick weiterschweifen und stelle fest, dass das hier doch keine Villa ist – auch wenn es in den einzelnen Zimmern verdammt luxuriös aussieht. Ich scheine eher in einer gigantischen Halle zu sein, in der sich ein Zimmerchen an das nächste reiht. Sie alle sind nach vorne hin offen und ganz unterschiedlich eingerichtet. Fast wie in einem Fernsehstudio. Unsicher setze ich mich in Bewegung und behalte dabei die Frauen und Männer im Blick, die weiterhin in ihre Handys sprechen und dabei Cremes, Klamotten, Backutensilien oder Fitnessübungen vorstellen.
War der Schlag von Schlauchboot-Lippe wirklich so heftig, dass ich unter Wahnvorstellungen leide, oder sind das hier tatsächlich alles Vidia-Sünden? Ich schaue zu einem Kerl, der nur Shorts trägt und vor der Kamera die wildesten Verrenkungen macht, um seine Muskelberge perfekt in Szene zu setzen. Dabei erklärt er: »Clean-Food ist das Wichtigste, Leute. Es reicht schon eine schlechte Mahlzeit, um euer ganzes System mit all den Fetten und schlechten Kohlenhydraten zu schocken.«
Ich starre den Typen an und bin ehrlich gesagt auch ziemlich geschockt. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er und all die anderen hier wirklich Neid-Sünden sind. Aber vielleicht Befallene – das wäre im Bereich des Möglichen.
»Was stehst du hier einfach rum?«, fährt mich eine schrille Stimme an.
Ich zucke erschrocken zusammen und drehe mich langsam um. Ein kleiner, älterer Kerl mit Halbglatze und Jackett kommt auf mich zu. Er hat leicht hängende Wangen und die eine oder andere Falte im Gesicht. Seine braunen Augen funkeln vor Zorn. Er trägt ein Tablet in der Hand und ein Headset auf dem Kopf.
»Warum bist du nicht in deinem Zimmer? Es ist Drehzeit!«, beschwert er sich. »Wenn man nicht immer alles kontrolliert. Und da frag mich noch einer, warum die Zimmer zu einer Seite hin offen sein müssen.«
Ich starre ihn nur ratlos an und weiß wirklich nicht, was ich darauf erwidern soll.
»Bist du etwa eine von den Neuen? Hat Lee dich geschickt? Warum hat er dich dann nicht gleich in dein Studio gebracht?« Er schnaubt genervt und murmelt leise vor sich hin: »Wenn man nicht alles selbst macht. Am Ende bleibt wieder mal alles an mir hängen.« Er wischt mit dem Finger über sein Tablet und fragt, ohne aufzublicken: »Follower?«
Ich runzele die Stirn. Meint er so etwas wie Verfolger? Ganz kurz schaue ich hinter mich, obwohl er doch am besten wissen müsste, ob mir jemand hierher gefolgt ist.
Er sieht auf, beobachtet mich dabei, wie ich mich umdrehe, und gibt ein entsetztes Schnauben von sich. »Sag bitte nicht, dass du eine Micro-Influencerin bist?!« Er stöhnt genervt auf und streicht sich mit einer Hand über die Halbglatze. »Wie oft habe ich meinen Leuten schon gesagt, sie sollen mir nicht immer wieder solche Luftnummern anschleppen?! Ich habe keine Zeit, diese Pfeifen von null aufzubauen. Und nun stehst du vor mir. Ich meine, sieh dich an: Was ist denn überhaupt dein USP? Du scheinst mir weder besonders fit zu sein, noch wirkst du – ich sage es mal ganz salopp – sonderlich gepflegt.«
Ich blicke an mir hinab. Tatsächlich bin ich noch immer in dem erbärmlichen Zustand, den ich nach meiner Flucht aus dem Turm hatte. Immerhin heißt das auch, dass mich dieser Bodybuildertyp nicht angefasst hat – worüber ich unendlich dankbar bin.
»Also, was ist deine Branche?« Erwartungsvoll sieht er mich an.
»Bevor Sie mich noch nach meiner Kleidergröße und meinem Zahnstatus befragen, würde ich gerne erst mal wissen, wo ich hier überhaupt bin«, erwidere ich. »Und wenn wir schon dabei sind: Wer sind Sie?«
Ich kann dabei zusehen, wie seine Augen immer größer werden. Fassungslosigkeit legt sich hinein, und schließlich braust er los. Er streicht sich hastig und wild über die Halbglatze, zerzaust seinen ordentlich frisierten Resthaarkranz und faucht mich an: »Du weißt nicht, wer ich bin?! Was hat man mir denn hier hingestellt?! Einen Nano-Influencer?! Falls ja, dann sage ich dir gleich: Mit so etwas arbeite ich nicht. Ich habe Social Line nicht gegründet, um mich mit Nieten abzugeben. Inzwischen sind wir Marktführer, wir sind eine echte Institution. Und dann wird mir so etwas gebracht! Los, sag mir deinen Namen. Ich will dein Profil sehen.«
Er tippt erwartungsvoll auf seinem Tablet herum, und ich habe keine Ahnung, ob ich diesem Kerl wirklich antworten oder nicht doch lieber die Beine in die Hand nehmen soll. Allerdings sehe ich keinen Ausgang, zu dem ich flüchten könnte, nur all diese seltsamen Leute in den ausstaffierten Zimmern. Auch wenn ich noch immer keine Ahnung habe, wie ich hier gelandet bin, kann es gar nicht anders sein: Ich befinde mich mitten in einem Vidia-Nest.
»Kleine, wenn du hier arbeiten willst, solltest du eines ganz schnell lernen«, mischt sich der wütende Mann wieder ein. »Was ich sage, ist Gesetz, und du solltest das Gesetz niemals missachten. Also reize mich besser nicht weiter. Dein Name?«
Noch immer versuche ich, das alles irgendwie zu verstehen. Wenn ich eine Gefangene bin, wie kann er dann nicht wissen, wer ich bin?
»Adeline«, erkläre ich und behalte meinen Nachnamen sicherheitshalber für mich.
»Irgendwelche Unterstriche, Zahlen oder Sonderzeichen?«, fragt er, während seine Finger schnell über das Tablet fliegen. »Denn Adelines dürfte es eine Menge geben.« Sogleich runzelt er die Stirn. »Oh, ich hoffe mal nicht, dass du die Adeline mit null Followern bist. Das wäre der Super-GAU. Also, erzähl mal. Was macht dich zu etwas Besonderem? Dieser seltsame Obdachlosen-Look ist es ja hoffentlich nicht.« Kurz lässt er seinen Blick missbilligend an mir auf- und abwandern und schnalzt mit der Zunge. »Wenn du Erfolg haben willst, musst du herausstechen. Sieh mich zum Beispiel an: Ich habe den Großteil meines bisheriges Lebens in Italien und Österreich verbracht – ich fühle mich also durchaus als halber Italiener, halber Österreicher. Allein das macht mich interessant, aber ich bin deswegen noch nichts Besonderes. Mein Ehrgeiz und meine Weitsicht haben mir dabei geholfen, dieses Imperium zu gründen.«
»Und dieses Imperium besteht aus was genau?«, hake ich nach und schaue zu den jungen Leuten um mich herum. Immerhin dämmert mir so langsam, was sie sein könnten. Als Hexe verfüge ich weder über ein Handy noch Internetzugang. Aber auf meinen Ausflügen nach Greenville habe ich natürlich so einiges mitbekommen. Der Typ spricht die ganze Zeit von Influencern. Geht es hier also um Social Media? Allerdings dachte ich immer, dass diese Influencer überwiegend von zu Hause aus arbeiten. Wenn ich mir aber diese Zimmer genauer anschaue, in denen sowohl Betten als auch Tische, ja teilweise sogar Küchen und Nebenräume vorhanden sind … Genau so soll es wohl wirken. Als wären sie bei sich zu Hause.
Die Augen des Mannes werden schmal, und ich kann ihm förmlich dabei zusehen, wie sein Kopf immer roter wird. »Du willst mir allen Ernstes weismachen, dass du keine Ahnung hast, was Social Line macht?«
»Es ist eine Firma«, halte ich fest und bringe den Kerl damit fast zum Ausrasten.
Er ballt die Fäuste und ist drauf und dran mich anzuschreien, da taucht ein junger Mann auf, der ein Wasserglas bei sich trägt und entsetzt stehen bleibt, als er sieht, was hier los ist. Er hat eine schlaksige Figur und langes, dunkles Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden hat.
Er kommt auf uns zu und neigt unterwürfig den Kopf, bevor er zu sprechen beginnt. »Mein Fürst, ich bitte um Verzeihung. Ich konnte Euch nicht finden und habe darum noch gar keine Meldung machen können.«
Fürst?!
»Das hier ist die Gefangene, die ich gestern erwähnt habe. Wir haben sie von einer unserer Außenstellen erhalten, und sie scheint tatsächlich eine Hexe zu sein«, erklärt der Angestellte und verneigt sich noch tiefer, als wollte er eine besonders intensive Gymnastikübung absolvieren. »Wir haben sie sicherheitshalber betäubt. Ich wollte ihr gerade etwas Wasser holen, da ist sie wohl aufgewacht.«
»Ja, das sehe ich auch«, schnauzt der Fürst seinen Untergebenen an und wedelt mit der Hand durch die Luft, als gelte es, eine lästige Fliege zu vertreiben. »Dann ist sie also gar keine neue Influencerin, sondern Futter.«
Der Kerl betrachtet mich nun mit einem ganz anderen Blick, umkreist mich, als wäre er auf dem Viehmarkt und ich eine Kuh, bei der er noch überlegt, ob er sie lieber melken oder gleich zum Schlachthof bringen will. In mir hallt währenddessen nur das Wort »Futter« nach, und kaltes Grauen erfasst mich. Wäre wohl doch besser gewesen, er hätte mich für eine dieser Influencerinnen gehalten. Einen Kuchen hätte ich vor der Kamera schon backen können.
»Wie ich Ihrem Angestellten in diesem Fitnessstudio bereits mitgeteilt habe: Als Futter bin ich gänzlich ungeeignet. Da ist wirklich nicht viel zu holen. Ich bin ein absoluter Fehlgriff als Nahrungsquelle, so viel können Sie mir glauben«, stammele ich vor mich hin, trete langsam zurück, auch wenn ich nicht mal weiß, wohin ich eigentlich gehen soll. Das Wichtigste ist erst mal, dass ich Distanz zwischen die Sünden und mich bringe.
»Oh, ich bin mir ganz sicher, dass du uns sehr gute Dienste erweisen wirst«, stellt der Fürst fest und schenkt mir ein Grinsen, das mir durch Mark und Bein fährt.
- Ende der Leseprobe -
Du kennst Whisper of Sins noch nicht und bist neugierig geworden?